Samstag, 22. Juni 2013

15. Tag Ziegenhain - Stadtallendorf, 28 km

Die Nacht war unruhig. Keiner im Haus schien zu wissen, dass hier ein Pilger nächtigt - bis auf den Russen Heinz und seine herzensgute Ehefrau. Die gaben mir von den 500(!) gefüllten Eierkuchen, die für anreisende Kinder aus den Tschernobyl-Gebieten vorbereitet wurden, eine Handvoll zum Frühstück. Der beste denkbare Start.


Bis dahin jedoch bekam ich den Eindruck, als wollte jeder im Dorf in dieses Zimmer gehen, nur um sich dann vor einem schlafend Ausschauenden zu erschrecken, dann zu entschuldigen, dann nochmal genau zu gucken und dann kopfschüttelnd die Tür zu schließen, ach, hätten sie sie nur geschlossen und nicht geworfen!

Das Frühstück hatte ich mir also verdienen müssen. Gegen 10.00 Uhr war ich dann - noch übermüdet - wieder auf dem Weg.

Was stand heute auf dem Programm? Wald und Felder ...



...und zwischendurch Kirchen! Heute mal eine ohne Dach (Treysa - ja genau, wo der Zug nicht nur durchfährt, sondern auch hält.)!


Der Weg war heute etwas enger und beschwerlicher als sonst, viel Gestrüpp und Enge. Aber mit den langen Gamaschen, die ich für den Regen eingepackt hatte, war ich hier genau richtig. 
Auch wenn sie ansonsten aus der Wandermode gekommen sind, schützen sie gegen Gestein und Gehölz im Schuh, vor Regen und - eben Gestrüpp, obendrein halten sie warm. Alleskönner fast schon.


Doch vor solchen Ungetümen schützen sie freilich nicht: Hier in Hessen stehen die mit Abstand größten Windräder, die ich je vor und über mir gesehen habe. 


Die Bäume sind sehr hoch. Die Windräder noch weit weg.  

Ohne zu messen oder zu googlen, ich würde sie auf 80-100 Meter schätzen! Ungetüme, die mich stets an eine frühe TV-Serie erinnern, die dann später von Spielberg mit Tom Cruise verfilmt wurde: Krieg der Welten! (...und freilich stammt die Geschichte von H. G. Wells, die Orson Welles bereits 1938 panikverursachend ins amerikanische Radio brachte...)

Aber etwas anderes ging mir vorher durch den Kopf, weil ich hier öfter als in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen den gelben Pfeilen zu folgen habe. Wie in Spanien auf dem Camino.


 (Das ist übrigens die Einfachheit des Pilgerlebens; immer den gelben Pfeilen nach, immer weiter in den Westen!)

Man kann darüber ja denken, wie man will, denken, dass der Camino de Frances die Fussgängerzone Europas ist, am verkaufsoffenen Sonntag kurz vor Weihnachten; Allle auf dem Weg zur Vergebung noch schnell die ein oder andere kleine Sünde einsammelnd. Tausende gehen plötzlich Kirche anschauen, meist noch sturzbetrunken vom Vorabend; schließlich erlaubt das harte Pilgerleben  auch harte Getränke, zumindest lange! Man kann so schön drüber lästern, traurig sein oder sich empören, dass jetzt "plötzlich" alle mit 'ner Muschel am Rucksack losstiefeln.! Ach, vieles ist angesichts der rucksackwankenden Stinker berechtigt. Generell kann man Pilgern als Mode abtun oder zur Burnout-Prävention erklären (Was übrigens nicht?!)

Mir war heute ein andere Aspekt aufgegangen, als ich die geliebten gelbe Pfeile wieder sah und brav vorbeitrottete: Sie durchziehen ganz Europa, ihnen folgen immer mehr Europäer, sie durchstreifen wahrlich strukturschwache Regionen (Entwicklungspolitikdeutsch!) und verbinden die alten und neuen Zentren des Kontinents - und abertausende Dörfer dazu. 
Und die Pilger und Fernwanderer (er-)leben die  Geschichte Europas! Die Jakobswege sind wie Adern der Historie Europas, und auf ihnen wandern Europäer, solche, die welche werden oder welche kennenlernen wollen. 

Das ist doch gelebte Einigung! Endlich läuft zusammen, was zusammen laufen sollte!

Da ist es doch ein Jammer, dass ich heute wieder keinen Pilger getroffen habe! 


Aber ich habe mit einem telefoniert! Mein österr. Freund aus Berlin, den ich in Spanien kennen gelernt habe und der mit mir Belgien und Frankreich belaufen will, kommt Ende Juni mit auf den Weg. Das ist doch ausreichend europäische Vielfalt! 

Wege entwickeln Identität.

s

Freitag, 21. Juni 2013

14. Tag Homberg - Ziegenhain, 24,5 km

Heute Morgen nahm ich wieder Abschied von der Familie Ullrich und zog weiter Richtung Marburg. Danke für die gemeinsame Zeit. 

Das Wetter war bewölkt und die Schäden des Unwetters waren überall zu sehen. 


Ich war heute selbst erstaunt, wie fröhlich und vergnügt mir das Laufen viel, wo ich doch noch gestern keinen Schritt weitergehen wollte! Diese vielen Hochs und Tiefs sowohl in der Stimmung, im Wetter, bei den Fragen der Ausrüstung, des Essens und Trinkens oder auch denen, die die Füße stellen, finde ich sehr eigenartig. Erstaunlich ist mir, dass sie scheinbar weggelaufen werden können.  Das Laufen erlaubt es nicht, festzuhalten. 

Das heutige Wetter; viel Wind, viele Wolken, schöne zumal, ab und zu Sonne und zwischendurch heftige Schauer Regen, zeigten mir wieder, was mir am Laufen/Weitwandern bzw. Pilgern gefällt: Immer wieder, zumindest täglich Loslassen, um Ankommen zu können, Willkommenheißen, um aufzunehmen und abzugeben; einen Rhythmus zu finden, der die Komplexität des eigenen Lebens zu einer wahrnehmbaren Ordnung reduziert, ohne ein Hamsterrad zu erschaffen. 

Einfach, ganz einfach! Aber nicht einfacher! 


Nur wer loslässt, kann befreit gehen und nur wer ankommt, kann Halt finden.


Und das ist meine heutige Übernachtung: Ich spüre schon jetzt den Reiz des vorbehaltlosen Goodbye! 

Übrigens Ziegenhain ist toll! Bisher ausschliesslich hilfsbereite Russen getroffen. Selbst die, die keine Russen sind, sondern Heinz gerufen werden wollen, haben mir Kaffee und Eierkuchen gebracht.  Einfach toll, diese Russen. Spasiba balschoi!

Wege entwickeln Weggabelungen.

s.


Donnerstag, 20. Juni 2013

13. Tag Dagobertshausen - Homberg/Efze, 15 km

Heute fehlte mir nach dem gestrigen Hitzeschlag jedwede Motivation und Kraft. Ich quälte mich durch die Dörfer und war froh, in der Stadt Homberg angekommen zu sein, müde, geschunden und bereit, Fünfe g'rade sein zu lassen. 



Da plötzlich rief mir ein Autofahrer zu, wer ich sei und was ich hier mache. Seine Tochter sei grad aus Spanien wieder gekommen, wollte da auch pilgern und ich könne gern die Nacht bei Ihnen verbringen, eine Dusche und Gegrilltes bekommen. 
In meinem Gesamtzustand hätte ich im Zweifel darauf gewettet, dass man mich eher aus der Stadt verjagen würde als mir eine Dusche anzubieten. Jedenfalls erklärte ich mich bereit und nahm das Angebot an. So bleibt mir Homberg auf eine ganz persönliche Art in Erinnerung. Das jedenfalls habe ich am Morgen keinesfalls vermutet.



Wege entwickeln eine eigene Dynamik.

s.


Mittwoch, 19. Juni 2013

12. Tag Waldkappel - Dagobertshausen, 36 km

Heute stand eine Mammut-Etappe an, wobei ich mit Mammuts auf dieser Reise bisher nicht viel Glück hatte. Und das Wetter sollte noch heiser werden als Gestern. 

Doch zunächst ging es in den Wald. Mehr als 20 km durch einen traumhaften Laub- und Mischwald standen mir bevor. Es war unbeschreiblich. Während ich so still vor mich hin durch den Wald stampfte, knackte es plötzlich rechts von mir und zwei riesige Hirsche, jawohl riesige Hirsche mit Geweihen - nein noch größere - sprangen mit ein, zwei Sätzen von mir weg und waren nicht mehr sichtbar. Ich rief noch kurz hinterher, merkte aber sofort, dass die mich nicht verstehen. Und ich lächelte bei dem zauberhaften Gedanken, dass die Tiere dieses Waldes doch reden können müssten. So lebendig wie sie mir erschienen sind, würde es mich nicht wundern. 

(Hinweis: Natürlich ist auf dem folgenden Foto kein Hirsch sichtbar.)


Im Laufe des Weges entwickelte sich die anfängliche Bedrohlichkeit des unbekannten Waldes zu einer Art Beschütztsein durch ihn. Fand ich klasse!


Nach Stunden kam ich pünktlich zur Mittagshitze zurück auf die Straße und in die Dörfer. Die Postmoderne hat auch hier zugeschlagen:


In Mörshausen hatte ich noch einen kurzen Besuch abzustatten in der Kirche beim so 'Schmerzensmann'.


Der Rest des Tages war Sonne, Hitze, Schwitzen und mit heissen Füßen in Dagobertshausen ankommen. Und den ganzen Weg blühende Holundersträucher riechen. 

In Dahobertshausen empfing mich als Unterkunft ein Wohnwagen und eine Pfarrerin, die mir wortlos einen Teller Nudeln mit Käse reichte, so unglaublich viel, dass ich es kaum schaffte. Danke! 


Wege entwickeln mit Holunderblüten.

s

Dienstag, 18. Juni 2013

11. Tag Netra - Waldkappel, 23 km

So recht freudvoll ging ich heute nicht ans "Tagewerk" - und ließ mich treiben durch wundervolle Wälder. Sie kühlten ein wenig, so dass die Anzeige an meiner Uhr die 30 nicht überschritt. Doch sobald ich die Radwege zwischendurch nehmen müsste, schnellte sie bis 35 hoch: Jetzt ist Sommer!



Dann kam ich an der Burgruine Boyneburg an, die versteckt im Wald liegt, den Abstecher indes wert ist. 


Schon Barbarossa hielt hier einst zweimal Hof, was damals wie heute eine gewisse Bedeutung vermuten lässt. 

Doch ich war heute noch einer anderen kulturhistorischen Besonderheit auf den Fersen, einer kleinen Kirche in Wichmannshausen, genau genommen deren Himmel und einer Bildkopie, deren Original in Berlin zu sehen ist: die "Madonna von Sralingrad"



Hocherfreut, in die Kirche gelassen worden zu sein, ging ich dann meiner Wege und sah dies schon von Weitem an einer Koppel stehen: what the heck...!


...und erhielt tiefe Einblicke, in welcher Gegend ich gelandet bin.


...fand freilich aber auch das hier vor...


...die Grössenverhältnisse stimmen nicht, will ich nicht unerwähnt lassen.

Wege entwickeln Vielfalt.

s

Montag, 17. Juni 2013

10. Tag Eisenach - Netra, 32 km

Bereits des Nachts wurde mir klar, dass mein Bein nicht nur wegen eines Muskelkaters schmerzte. Am vorderen Schienbein entwickelte sich eine ordentliche Entzündung. "Mmh", dachte ich, und wusste auch nicht, wo Mekka liegt, zumal ich ja im Grunde nach Santiago in Spanien unterwegs bin. 
Die Frau in der Apotheke meinte, sie könne mir Diclofenac empfehlen und Ipuprofentabletten, die die Entzündung lindern. Beides hatte ich im Rucksack eingepackt und holte es jetzt raus. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Tag gut. 

Ich schaute mir noch die restlichen, bei weitem aber nicht alle Sehenswürdigkeiten Eisenachs an...




... und begab mich dann auf den Elisabeth-Pfad, der auch ein Pilgerweg, also einer der Jakobswege in Deutschland ist - und verließ damit den Ökumenischen Pilgerweg.


Ich durchquerte das wunderbare Weratal, das vom Regen heimgesucht wurde, wohl aber keine Überschwemmungen der Wera erlebt hatte. Im Hintergrund des Bildes deutet sich bereits die Creuzburg in Creuzburg an: Ich gelangte in das ehemalige Innerdeutsche Grenzgebiet. 


Ein Einheimischer klärte mich dann über den riesigen Privatpark auf, der an Europas größtem Sägewerk angelegt wurde und öffentlich zugänglich ist. Es war die Geschichte über einen mega(einfluss)reichen  Industriellen, der die gesamte Region umkrempelt. 
Jedenfalls steht sein Betrieb auf der ehemaligen Heeresstraße, die u.a. Napoleons Truppen nach der Schlacht bei Auerstedt nutzten (wo ich vorige Woche entlanggekommen war)...im Hintergrund ist das Tor zu erkennen, das die Strasse heute versperrt. 


...an dieser Stelle verläuft auch das Grüne Band, der Wanderweg entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Dazu wird G (sprich: Tschi)  alsbald mehr sagen können - und vielleicht einen eigenen Blog einrichten ;-)


Und eh' ich mich Versehen hatte, war ich im heutigen "Zieldorf", in dem ich das Gemeindehaus zur Nacht nutzen darf, auf eine Kindergeburtstagsparty eingeladen. Der Sohn des Hausherrn und Grillmeisters Holger, seines Zeichen spontan, herzlich und großzügig, hatte heute Geburtstag. Ich hatte das beste und ausgiebigste Abendessen seit Tagen! Was für eine Wohltat.


... Und seine Mutter erzählte mir Einiges vom Dorf und seiner Geschichte - und achtete darauf, dass ich auch Salat essen würde. Erfolgreich! 


Das war ganz großes Kino! Und ich schlafe jetzt seelenruhig mit der Erkenntnis ein, dass die Einwohner von Netra klasse sind! 

Wege entwickeln in Grenzgebieten.

s

Sonntag, 16. Juni 2013

Ruhetag Eisenach


Was für eine Stadt dieses Eisenach doch ist! Deutsche Kultur allenthalben, Weltbedeutung überall, Luther, Bach, Heilige Elisabeth, ach', das sind nur einige Andeutungen.

Und dennoch irgendwie ostig, provinziell, theaterhaft. Geradezu historisiert, leblos, restlos ausgesaugt, doch ein Mekka für Touristen und Staunende. 

Selbstredend sind das persönliche Eindrücke, unüberprüft, keineswegs verobjektiviert, aber eine Realität gleichwohl. Sorry, Eisenach.

Ein Lichtblick ist die "Herbergsmutter" und ihr Mann! Sie versorgte mich mit Magnesiumtabletten. Ein Segen. Wahrlich. Keine zu nehmen bei solchen Vorhaben bestenfalls fahrlässig, regelmäßig jedoch dumm. In Spanien 2010 auf dem Camino habe ich noch jeden Tag derartige Tabletten zu mir genommen, und alles lief gut. Ich wusste nur nicht, dass es tatsächlich auch damit zusammenhing. Und natürlich mit noch etwas Wesentlichem beim Gehen...


...seht Ihr was? Ich habe neue Schuhe! Also nicht neu, sondern alt, bewährt, erprobt auf dem Camino Frances in Spanien und dem E5 über die Alpen! Schuhe, die meinen, Füssen passen, auch wenn sie GTX-frei ihren Dienst tun. 

Lediglich die Tatsache war für mich gestern erfreulicher, dass meine Freundin die Schuhe nach Eisenach brachte! So haben wir beide heute einen wunderbaren Tag gemeinsam verbracht, die Wartburg angeschaut, Villen von einer Schönheit längst vergangener Tage bewundert und versucht, dem Mittagessen im Restaurant direkt an der Bachschen Taufkirche Qualität zuzusprechen. Der Versuch ist hier zwar nicht strafbar gewesen, aber töricht! Wieso gibt es "Spargelessen ohne tierische Zusätze" mit Schinken? Sauerkraut aus der Dose? Labbrige Tomaten und Orangen zur Verschönerung des Essens? Der Optik halber?! Und das in der Stadt Luthers Weltenwerk?! 

Unsere sprichwörtlichen Lutherischen R... und F...  jedenfalls waren kein Beleg für die Qualität des Essens! Eher das Gegenteil und keineswegs komisch. 
Aber wir brachten den Mut der Ehrlichkeit auf und teilten unsere Ansicht mit. Ein Cappuccino aus billigem Pulver zusammengerührt war die strafende, aber nicht bösartig servierte Konsequenz. Wir hätten es wissen können...

Wie so häufig gilt auch hier und heute: Unvergessliches hat nichts mit Qualität zu tun! Danke Eisenach.

Wege entwickeln sich aus dem Hier und Jetzt, sind aber nie kontextfrei oder geschichtsohne.

s

PS: Danke für den Tag hier mit Dir!